Entangled Fields – Zurich Art Prize 2025
Kuratiert von Sabine Schaschl
Der jährlich vom Museum Haus Konstruktiv und der Zurich Insurance Company Ltd. vergebene Zurich Art Prize geht 2025 an den brasilianischen Künstler Artur Lescher (*1962 in São Paulo, lebt und arbeitet ebenda). Damit ist er der 18. Gewinner der renommierten und hochdotierten Auszeichnung.
Artur Lescher ist seit Mitte der 1980er-Jahre künstlerisch tätig und hat sich mit seinen Skulpturen einen Namen in der Kunstwelt gemacht. Sein Schaffen zeichnet sich durch eine intensive Beschäftigung mit den spezifischen Eigenschaften und Potenzialen von Werkstoffen aus und bezieht unter anderem die Materialien Messing, Metall, Holz und Kupfer ein. Die Skulpturen strahlen eine minimalistische Eleganz aus, wirken aber trotz ihrer perfekten Oberflächen und einer oft kühlen, reduzierten Ästhetik wie aufgeladen, lebendig und in Bewegung – ein Effekt, der insbesondere bei den scheinbar freischwebenden Objekten auffallend ist.
Im ersten Ausstellungsraum wird dieses Spannungsfeld zwischen strenger Form und subtiler Lebendigkeit erlebbar. Hier zeigt Lescher eine Vielzahl von Pendulums: schlanken, stelenartigen Objekten, die an der Decke befestigt sind und den Anschein erwecken, als sei eine antigravitative Kraft mit im Spiel, die sie zum Schweben bringt. Assoziationen zu Sternbildern werden durch die glänzenden Materialien noch verstärkt. Mit der Arbeit V Sagittae setzt Lescher dem gleichnamigen, an sich unscheinbaren Doppelstern im Sternbild Sagitta ein Denkmal. Er wird voraussichtlich um das Jahr 2083 in einer Nova explodieren und so hell leuchten wie Sirius, der hellste Stern am Nachthimmel. Dieser kosmische Bezug eröffnet eine Dimension der Zeitlichkeit und Transformation, die Leschers Werke über das Sichtbare hinaus in ein grösseres Narrativ einbindet.
Leschers Werke können als Einzelstücke präsentiert werden, doch in der Zusammenschau bilden sie einen eigenen Kosmos – oder eben ein entangled field. Dieser in der Quantenphysik gebräuchliche Begriff der «verschränkten Felder» beschreibt einen Zustand, in dem mehrere Teilchen so unmittelbar miteinander verbunden sind, dass sie sich nicht mehr unabhängig voneinander beschreiben lassen. Mit seiner Art der künstlerischen Korrelation verleiht Lescher dem Raum eine eindringliche und poetische Qualität, die seine Werke über die reine Ästhetik hinaus in eine metaphorische Ebene hebt.
Hinsichtlich der bereits genannten Qualitäten lässt sich Leschers Schaffen in einer skulpturalen Tradition verorten, die Modernität mit grundlegenden, teils archaischen Themen verknüpft und ihr eine animistische Dimension verleiht: Parallelen zu Werken von Constantin Brâncuși scheinen auf, zum Œuvre von Louise Bourgeois – insbesondere zu deren Stelen – und zu Alberto Giacomettis surrealistischem Frühwerk. Und genau hierin erfolgt Leschers Abgrenzung von der pragmatischen Minimal Art: Während die Minimal Art auf Reduktion und Pragmatik setzt, haucht Lescher der Perfektion der geometrischen Formensprache durch mythologische Bezüge Leben ein.
Lescher erforscht sein Material und erprobt die ihm inhärenten Möglichkeiten mit einer offensichtlichen Affinität zur Welt der Technik und des Industrial Design. Zugleich aber betont er die mythologische Bedeutung bestimmter Materialien und Materialeigenschaften sowie deren Verbundenheit mit den Kräften der Natur. Für ihn ist beispielsweise zentral, dass das flexiblere, weiche Kupfer der Göttin Venus zugeschrieben wird, während das schwere, dunkle Eisen für Hephaistos steht. Diese symbolische Aufladung verbindet sich mit einem tiefen Respekt vor den physikalischen Eigenschaften der Stoffe: Schwere, Dichte, Widerstandskraft oder Formbarkeit werden nicht überwunden, sondern in die ästhetische Logik der Werke integriert.
Wirft man einen Blick in Leschers Skizzenbuch, entdeckt man – neben Entwürfen für fliegende, der Schwerkraft trotzende Skulpturen – auch Vögel aller Art. Eine strikte Trennung zwischen Kunst, Natur und Fragen der Mythologie oder Metaphysik findet in seinem Schaffen nicht statt. Eine Offenheit, wie sie auch für den brasilianischen Neoconcretismo der 1960er-Jahre typisch war, während die europäische konstruktiv-konkrete Kunst die Ratio ins Zentrum ihrer Konzepte rückte.
Lescher selbst fasst seine kunsthistorischen Bezugnahmen wie folgt zusammen: „Zu meiner Auseinandersetzung mit dem Neoconcretismo […] zählt die Beschäftigung mit Werken von Kunstschaffenden wie Hélio Oiticica und Lygia Clark, aber auch mit Konkreten wie Waldemar Cordeiro, Geraldo de Barros und Max Bill. In diesem Zusammenhang stellt das Manifesto Neoconcreto [herausgegeben in Rio de Janeiro 1959] einen ganz zentralen Referenzpunkt dar, ebenso wie die Beschäftigung mit den gemeinsamen Nennern von russischem Konstruktivismus und Neoconcretismo.“
Die Entscheidung des Künstlers, die Besucher:innen durch die parallel eröffnete Schau Konkrete Kunst. Neoconcretismo zu leiten, bevor sie in seinen zweiten Ausstellungsraum gelangen, untermauert Kontext und Herkunft seines Schaffens. Hier manifestieren sich Bezugnahmen, Verbindungen und Beziehungen zwischen den Werken, aber auch kunsthistorische Referenzen. So kann auch der Ausstellungstitel Entangled Fields vielschichtig gelesen werden.
Flankiert von der Infowand Eine Chronik der konkreten Kunst in Brasilien – einem historischen Abriss, der die wechselseitigen Beeinflussungen der brasilianischen und europäischen Konkreten vorstellt –, präsentiert Lescher die bereits 1998 entstandene Arbeit Pendulum (1998), sein frühestes Werk in der Ausstellung. Ein Wink auf den Aspekt der Zeit, auf das Vergehen der Zeit, auf die Historie. Ein Pendel in Ruheposition betont jedoch auch das Hier und Jetzt.
Der Umgang Leschers mit Architektur wird in der eigens für das Museum Haus Konstruktiv geschaffenen ortsspezifischen Arbeit Zwischen den Zeilen im dritten Ausstellungsraum deutlich. Wie zur Vermessung des Raumes verlaufen zwei Bahnen aus einer Vielzahl von roten Nylonschnüren entlang der Ausstellungswände und des Bodens. Dieser minimale Eingriff unterstreicht das Raumvolumen und lässt es gleichzeitig leicht und schwebend erscheinen. Assoziationen zu Streichinstrumenten, Saiten oder Notenlinien bringen das Thema von Klang und Musik mit ins Spiel und machen aus dem Ausstellungsraum auch einen Klangraum.
Leschers Skulpturen fügen sich nicht nur in den Raum ein, sondern interagieren mit ihm. Der Raum wird zu einem integralen Bestandteil der Skulptur und stärkt ihre Präsenz. Diese Fähigkeit, auf die Architektur seiner jeweiligen Ausstellungsräume zu reagieren, bewog die Jury, Lescher mit dem Zurich Art Prize auszuzeichnen.
Lescher kann auf zahlreiche internationale Einzel- und Gruppenausstellungen zurückblicken. Solopräsentationen hatte er unter anderem im Farol Santander in Porto Alegre (2022), in der Pinacoteca in São Paulo (2019), im Palais d’Iéna in Paris (2017). An Gruppenausstellungen war er unter anderem beteiligt im Rahmen eines Kulturprojekts in Gizeh, Ägypten (2023), im LagoAlgo in Mexiko-Stadt (2022) und im Mana Contemporary in Jersey (2016). Werke von Artur Lescher befinden sich unter anderem in den Sammlungen folgender Institutionen: MALBA in Buenos Aires, Museum of Fine Arts Houston, Philadelphia Museum of Art, Buffalo AKG Art Museum, Biblioteca Luís Ángel Arango in Bogotá, Pinacoteca do Estado de São Paulo und Museu de Arte Moderna de São Paulo.
Der Zurich Art Prize ist ein Kulturengagement der Zurich Insurance Company Ltd.
Vorlage Logos ZAP Kapwani
Geschrieben von Zero Zurich