“Zerstreuung überall!” ist eine Aufforderung zum Tanz, eine Einladung zur Versammlung in höflichem Abstand und ein bewegendes Ritual zur Beschwörung der Kunst von Abwesenden: Wer am internationalen Radioballett teilnimmt, verleiht den über Kopfhörer vermittelten Stimmen und Bewegungsanweisungen von Tanz- und Performancekünstler*innen aus aller Welt einen Körper und macht ihre Bewegungssprache leibhaftig sichtbar. So entsteht trotz geschlossener Grenzen und Reisebeschränkungen über Länder und Kontinente hinweg eine physische Verbundenheit.
Die Idee zu diesem aussergewöhnlichen Projekt stammt von der Gruppe LIGNA, die aus den Medien- und Performance-Künstlern Ole Frahm, Michael Hüners und Torsten Michaelsen besteht. Es ist einerseits eine konsequente Weiterführung ihrer bisherigen Arbeit mit Radiointerventionen im öffentlichen Raum und gleichzeitig eine Reaktion auf die durch Covid-19 ausgelösten gesellschaftlichen Veränderungen. In urbanen Interventionen und performativen Installationen erforscht das Trio seit 2002 die Handlungsmöglichkeiten von zerstreuten und sich temporär verbindenden Kollektiven. Für ihre aktuelle Produktion bietet das von LIGNA entwickelte künstlerische Format des Radioballetts, das sich in öffentlichen Räumen wie Hauptbahnhöfen und Einkaufszentren bereits erfolgreich bewährt hat, den geeigneten Rahmen.
Wie haben sich unsere Körper, wie haben sich die Gesellschaften in dieser Zeit der globalen Bedrohung durch die Pandemie verändert? Diese Frage hat LIGNA dreizehn internationalen Künstler*innen gestellt und sie um einen gesprochenen choreografischen Beitrag gebeten. Die eingegangenen Antworten stammen unter anderem von Geumhyung Jeong (Südkorea), Eisa Jocson (Philippinen) oder Mamela Nyamza (Südafrika), die dem Theater Spektakel seit Längerem verbunden sind. LIGNA hat die kleinen, teils heiteren, humorvollen, traurigen oder tiefgründigen Stücke zu einer vielstimmigen Choreografie zusammengefügt. Aufführungsort für das Radioballett, zu dem der bulgarische Komponist Emilian Gatsov die Musik geschrieben hat, ist ein öffentlicher Platz, auf dem sich das Publikum gemäss den geltenden Abstandsregeln verteilt, um als distanziertes Kollektiv die Welt in eine gemeinsame Bewegung zu versetzen – zumindest ein bisschen. “Zerstreuung überall!” sei ein Vorschlag für eine andere Art des planetarischen Zusammenlebens und der Sorge umeinander, schreibt LIGNA.
Scritto da Zero Zurich